Vom Kudamm in den Schweinestall
Hof Becker empfängt kritische Gäste aus Berlin / Bündnis „Wir haben es satt“ organisiert Dialog
Wietzendorf / Reddingen (ccp). Saskia und Marlen verbringen zwei Tage auf dem Hof Becker in Reddingen (Heidekreis). Die Berlinerinnen nehmen an einem Projekt teil, das den Dialog zwischen Landwirtschaft und ihren Kritikern fördern soll. Die Idee zur Teilnahme entstand durch ein Angebot des Bündnisses „Wir haben es satt“. Die Organisation, der Verbände wie BUND, Nabu und Greenpeace angehören, hatte „Aktivist*innen“ der Klima-, Tier- und Umweltschutzbewegung eingeladen, um für zwei bis drei Tage auf landwirtschaftlichen Betrieben mitzuarbeiten. Saskia und Marlen wählten unter 27 Höfen den Beckerschen Betrieb und fühlen sich auf dem Hof in der Lüneburger Heide inzwischen sichtlich wohl. Mit der Bezeichnung „Aktivistin“ können sie sich allerdings nicht so recht anfreunden. Beide sind bei der Verbraucherzentrale in Berlin beschäftigt: „Es geht uns einfach um mehr Authentizität im Beruf“, erklärt die Diättherapeutin Marlen und die Ernährungswissenschaftlerin Saskia ergänzt: „Weil wir so viel über Ernährung reden, wollten wir mal unmittelbar erleben, wie es auf einem Bauernhof zugeht.“
Genau das steht seit Donnerstagabend auf dem Programm: Die Ankunft bei Familie Becker, die Übernachtungen auf dem Hof und die gemeinsamen Mahlzeiten gehören genauso dazu wie die Arbeiten auf dem Betrieb.
Als am Freitag gegen 15 Uhr die regionale Presse anrückt, um nach den ersten Erfahrungen zu fragen, haben Betriebsleiter Christoph Becker und seine Mitarbeiterinnen bereits einen vielschichtigen Arbeitstag hinter sich. Allgemeiner Hofrundgang, Kontrolle der 1000 Mastschweine, Inspektion der Biogasanlage, Feldberegnung startklar gemacht und natürlich an jeder Station hinterfragt, ob das Verfahren einem „Hof mit Zukunft“ gerecht wird, denn unter diesem Motto möchte das Bündnis die konträre gesellschaftliche Debatte führen.
Mit einem John-Deere-Hoftruck – ihrem Dienstfahrzeug – kommen Saskia und Marlen in flotter Fahrt über das weitläufige Hofgelände angeknattert. Es gibt ein paar Begrüßungsfotos, aber dann schlüpfen sie schon fast routinemäßig in die weißen Overalls. Das Ausmisten des Maststalls ist angesagt. Da Becker seine Schweine in Außenklimaställen mit überdachtem Auslauf hält und sich das neugierige Borstenvieh überwiegend draußen aufhält, treiben die beiden die quirligen Tiere mit sanftem Druck in das Stallinnere. Die Schwenktore werden verriegelt und dann ist die betonierte Veranda frei für den Radlader. Becker schiebt den Mist zusammen, um ihn direkt zur Biogasanlage zu verfrachten. Saskia und Marlen schaufeln die Ränder frei, die die Maschine nicht erfasst. Ein Strohballen wird mit gemeinsamer Kraft ausgerollt und das Bett ist fertig zum Bezug. „Die quieken ja richtig vor Freude“, ruft Saskia, als die Stalltore aufgehen und die Tiere sich übermütig ins Stroh stürzen.
„Schön anzusehen, aber es gehört auch zur Wahrheit, dass nur in 2 bis 3 Prozent aller Schweineställe dieses Haltungsverfahren mit Auslauf, Stroh und doppeltem Platzangebot praktiziert wird“, gibt Becker zu bedenken. Warum nicht mehr? Die Gesprächsrunde erfährt, dass bereits das Angebot aus dieser sogenannten Haltungsstufe 4 zusammen mit der höchsten Haltungsstufe 5 (Bio) völlig ausreicht, um die Nachfrage nach dem teureren Endprodukt bedienen. „In Umfragen sind regelmäßig 60 Prozent der Verbraucher bereit, für mehr Tierwohl auch mehr Geld auszugeben, aber an der Tiefkühltruhe fällt die Abstimmung ganz anders aus“, weiß Becker aus Branchenuntersuchungen.
Müssen es denn 1000 Schweine sein, die auf einem Betrieb gehalten werden? „Wir bekommen für ein Mastschwein 250 Euro“, rechnet Becker vor, „110 Euro zahlen wir für das Ferkel, 100 Euro für das Futter – dann bleiben 40 Euro über, um die Kosten für Arbeit, Energie und den Stall zu decken. Erst dann sprechen wir über den Gewinn.“ Damit der Betriebszweig einen nennenswerten Beitrag zum Betriebserfolg leisten kann, müsse die Erzeugung bei der gegebenen Gewinnmarge in der 1000er Dimension liegen.
Hinsichtlich der erzeugten und verbrauchten Fleischmengen in Deutschland melden die Besucherinnen allerdings ihren Widerspruch an. „Wir müssen zurück zum Sonntagsbraten“ sagt Diättherapeutin Marlen. Sowohl aus gesundheitlichen Aspekten als auch aus Gründen des Umwelt- und Tierschutzes sei das derzeitige Maß überzogen. Ob sie auch staatliche Eingriffe in die individuelle Entscheidungsfreiheit bei der Ernährung für angemessen halte, wollte Landvolk-Geschäftsführer Henning Jensen wissen. „Der Staat sollte seine Verantwortung nicht auf die individuelle Entscheidung der Verbraucher abwälzen“, sagen die Verbraucherschützerinnen, was extrem schädlich sei im Hinblick auf den CO2-Fußabdruck oder das Tierwohl könne auch untersagt werden. Durch irreführende Werbung werde der Verbraucher bei der Forderung nach einem verantwortungsvollen Handeln schlichtweg überfordert.
In einem vorläufigen Fazit sind die Gäste aus Berlin beeindruckt von dem Engagement, das der Hof Becker für das Tierwohl aufbringt. „Wir haben gesehen, dass Schweinehaltung auch so funktioniert – und das ist eine wichtige Erkenntnis.“ Das Verständnis füreinander sei gewachsen und auch die Erkenntnis, dass man gar nicht so weit voneinander entfernt sei.
Da war aber erst Halbzeit im Programm. Ob am Samstag auch das Wietzendorfer Schützenfest unter das Motto „Aktivismus trifft Landwirtschaft“ gehört, musste noch geklärt werden. Vielleicht fahren die Berlinerinnen dann auch erst am Sonntag nach Hause.